In dem zitierten Abschnitt aus der Monographie von Rolf Thieroff „Das finite Verb im Deutschen“ (1992) geht es um den Zusammenhang von Faktivität und Konjunktiv. So geht es Thieroff darum zu zeigen, dass auch nicht-faktive Verben eine faktive Variante aufweisen können. Er widerspricht damit dem Grammatiker Peter Eisenberg („Grundriss der deutschen Grammatik: Der Satz“, 2006), für den folgender Zusammenhang von Faktivität und Konjunktiv besteht:
„In dass-Komplementen von faktiven Verben steht der Ind., in solchen von nicht-faktiven Verben kann der Ind wie der KonjI stehen.“ (2006: 118)
Beispiele für faktive Verben sind bei Eisenberg:
Beispiel
Karl versteht/vergisst/entschuldigt/weiß, dass Egon bleiben will/*wolle
Und Beispiele für nichtfaktive Verben sind:
Beispiel
Karl meint/behauptet/hofft/glaubt, dass Egon bleiben will/wolle
Umgekehrt folgt daraus, dass auf der Basis der Verbindung mit Indikativ und/oder Konjunktiv die Verben in die beiden Klassen eingeteilt werden können:
"Man kann die Verben mit dass-Komplementen in zwei disjunkte Klassen danach einteilen, ob sie den Konj Präs im dass-Satz akzeptieren oder nicht. Akzeptiert ein Verb den Konj nicht, so ist es faktiv, d.h., der Sprecher setzt die Wahrheit des Komplementsatzes voraus." (2006: 117)
Faktivität bedeutet bei Eisenberg also, dass ein Sprecher die Wahrheit des Komplementsatzes voraussetzt. Wenn man die Wahrheit des Komplementsatzes voraussetzt, macht der Konjunktiv keinen Sinn, weil der Konjunktiv gerade dann steht „wenn der Sprecher sich nicht zur Wahrheit des Komplementsatzes bekennen muss“ (ebd.).
Eisenbergs Schlussfolgerung lautet:
„Der KonjI ist in dass-Komplementsätzen nicht an die indirekte Rede, sondern allgemeiner an Nichtfaktivität gebunden. Bei faktiven Verben steht er nicht, bei nichtfaktiven ist er ohne Bedeutungsänderung gegen den Ind austauschbar und bei Verben mit einer faktiven und einer nichtfaktiven Variante gibt er an, dass die nichtfaktive gemeint ist.“ (2006: 119)
Rolf Thieroff geht es nun darum, dass es nicht nur nichtfaktive Varianten von faktiven Verben geben kann, sondern auch faktive Varianten von nichtfaktiven Verben: „Wir müssen jedoch davon ausgehen, daß umgekehrt auch in ihrer Grundbedeutung nicht-faktive Verben eine faktive Variante aufweisen können.“ (1992: 254) M.a.W.: Es kann laut Thieroff vorkommen, dass eigentlich nicht-faktive Verben faktiv verwendet werden. Er diskutiert das an Beispielen zu den Verben schreiben und sagen. Diese sind eigentlich nichtfaktiv und erlauben folglich je nach Wahrheitsanspruch des Sprechers Indikativ und Konjunktiv:
Beispiel
Karl sagt/schreibt, dass Egon bleiben will/wolle.
Laut der Eisenberg’schen Grundregel dürfte es bei diesen Verben keine Restriktion zum Konjunktivgebrauch geben, d.h., sie müssten als nichtfaktive Verben den Konjunktiv uneingeschränkt zulassen. Thieroff will mit den von Ihnen zitierten Dialogen offenbar zeigen, dass es Verwendungskontexte gibt, in denen ein eigentlich nichtfaktives Verb faktiv ist und folglich keinen Konjunktiv zulässt. In Thieroffs Beispiel (68)
Beispiel
Paul ist krank.
So? Er hat mir gar nicht gesagt, daß er krank ist/*sei.
setzt der Sprecher nach Thieroffs Interpretation offenbar die Wahrheit des Komplementsatzes voraus. In (69) hingegen ist das nicht der Fall:
Beispiel
Paul ist nicht krank.
Er hat auch nicht gesagt, daß er krank sei/ist.
Leider erklärt Thieroff seine Einschätzung dieser Beispiele nicht genauer. Offenbar spielt die Verbindung mit Negation eine große Rolle. Das ist nicht verwunderlich, da es ja um Wahrheitsanspruch geht. Möglicherweise lässt sich der Unterschied mit dem ebenfalls nichtfaktiven Verb behaupten noch besser zeigen:
Beispiel
Paul ist krank.
???So? Er hat mir gegenüber gar nicht behauptet, daß er krank ist/sei.
Paul ist nicht krank.
Er hat auch nicht behauptet, daß er krank sei/ist.
Das Verb behaupten passt nicht gut zum ersten Beispiel. Mit dem Verb behaupten drückt ein Sprecher aus, dass er den Wahrheitsgehalt einer Äußerung anzweifelt. Hier geht es ja aber nicht darum, den Wahrheitsgehalt der Angabe von Paul zu seiner Krankheit anzuzweifeln, sondern die Rückfrage So? signalisiert lediglich Unwissenheit in Bezug auf Pauls Erkrankung. Der Sprecher möchte sich also gar nicht „distanzieren“ (wie Sie es formulieren), sondern er begründet seine Unwissenheit.
Wie Sie sehen, geht es hier um eine grammatiktheoretische Diskussion. Wenn Sie als Sprachbenutzer Zweifel hegen, ob der subtile Unterschied zwischen Thieroffs Beispiel (68) und (69) wirklich den Sprachgebrauch widerspiegelt, sollten Grammatiker das ernstnehmen und berücksichtigen.
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